Sonntag, 26. Juni 2011

Nora

Beklommenheit steigt an meinen Knöcheln empor und legt sich wie eine eisige Hand über mein Herz. Da ist die Wut über Torwald aber vor allem eins: Die riesige Enttäuschung über Torwalds Verrat. Er hat sich selbst – oder zumindest den Torwald, der meinem Wunschdenken entsprungen war – verraten!
Das einzig Gute an meiner Wut ist, dass sie mir die Hemmungen genommen hat, die mich von klein auf begleitet haben. Erst mein Vater, dann Torwald waren immer Respektspersonen für mich gewesen. Autoritäre Persönlichkeiten, denen ich nichts entgegen zusetzten hatte, in meiner kindlichen Naivität gefangen, wie ich es war. Auf einmal fühle ich mich grauenvoll leer. Ich spüre keine Verzweiflung mehr aber ebensowenig Freude an mein zukünftiges, freies Leben. Mir war in wenigen Stunden – oder hat es schon vor Tagen begonnen? – alles geraubt worden, worauf ich stolz gewesen war. Die Tatsache ein Leben gerettet zu haben, oder gar zwei, die Beförderung meines Mannes, der er nicht mehr ist und die scheinheilige Ausgefülltheit, die mein Leben hatte, nachdem ich drei Kinder geboren hatte.
Auf der Treppe spüre ich einen solchen Drang, loszuschreien, dass ich mich, den Nachbarn zu liebe, schnell aus dem Staub mache. Und das, obwohl die Nachbarn wohl die letzten wären, die mich im Moment zu interessieren hätten! Ich habe meine geliebten Kinder zurückgelassen ohne auch nur ein Foto einzupacken, und das alles um einem Mann, der mich nie geliebt hat zu beweisen wie stark ich war und das ich ihn  nicht brauche weil ich nicht so naiv bin wie er immer dachte und unabhängig, selbstständig- Aaaaaaaaaaaaaah!
Das war irgendwie noch nicht so recht befreiend…
Ich stosse einen Schrei aus, der mit Sicherheit Ivar und Emmy weckt – nicht Bob, der ist ja krank – und Torwald, würde der schlafen. Wie denn? Der wird mit seinen Gedanken noch bis früh morgens beschäftigt sein. Ohne Frau, ohne Freunde – Oh Rank wie ich dich schon vermisse! Ich weiss nicht was mich mehr geschockt hat: Die Tatsache, dass er sich zum sterben eingeschlossen hat – oder, dass er seit Jahren in mich verliebt gewesen war. Wie viel stärker wäre eine Ehe zwischen uns geworden, echte Gespräche bis Mitternacht und kein neckisches Umhertanzen und Singen. Ach, hätte ich bloss vor Jahren erkannt was ich jetzt weiss! Aber welche Liebe währe das gewesen! Mit nichts als Aussichten auf seinen Tod? Hätte ich jemals die Chance auf ein neues Leben gehabt, wie ich sie jetzt habe, nicht verwitwet, nur getrennt? Der Schnee knirscht und die eisige Luft lässt mich frösteln, ich bin viel zu kalt angezogen. Ob Torwald die Fenster der Kinderzimmer auch ordentlich verschlossen hat?
Ich fühle mich erwachsen und stark.
Was Christine wohl sagen würde, wenn ich so urplötzlich vor ihrem – Krogstads – Haus auftauchen würde? Ob sie mich immer noch für kindlich und unreif hielt? Ob ihr die melodramatische Art, Mann und Kinder zwecks Selbstfindung zu verlassen, gefiele? Da riss mich schon das Klingeln der Tür  aus den Gedanken.