Und wieder einmal blieb ihr nichts anderes übrig als zu schweigen, während er herumtobte. Zu schweigen, während er sie anschrie. Und zu schweigen, während er sie stiess und mit der flachen Hand ins Gesicht schlug, als er merkte, dass die Bierflaschen im Kühlschrank noch lauwarm waren.
Sie wartete ab, bis sie das Summen des Fernsehers hörte, und stand auf. Die Turmuhr schlug neunzehn Mal.
Sie räumte die leeren Flaschen zur Seite und begann den Schmutz des Tages aufzuwischen während sie das Radio andrehte. Ganz leise nur. Stau wegen Unfall auf der A1 Zürich Richtung St.Gallen.
Es war einundzwanzig Uhr zweiundreissig, als alle Teller und die Wäsche gewaschen waren, der Boden sauber und sie müde. Und es war einundzwanzig Uhr zweiundreissig, als die Tür mit einer solchen Wucht hinter ihm zuschlug, dass der Raum erbebte.
Jeremy schlief, oder auch nicht. Sie schlich sich zur Tür ihres gemeinsamen Zimmers und horchte. Dann drückte sie die Klinke leise nach unten, die Tür öffnete sich knarrend. Ihr Bruder sass aufrecht im Bett, ein Buch auf dem Schoss, eine Taschenlampe in der Hand, blickte nicht auf, als sie kam. Sie ging auf ihre Seite des Vorhangs, machte Licht. Kein Protest.
„Wir gehen.“ Sie schaute ihn an.
„Ich weiss.“ Er sah nicht auf.
Sie begann zu packen. Hosen für sie, Shirts für ihn, zwei CDs und die kleine grüne Blechschachtel. Sie war alt und ein wenig rostig, bot aber Platz für eine Million in grossen Scheinen. Carola hatte nie grosse Scheine gehabt, geschweige denn eine Million. Stattdessen hatte sie die wenigen Scheine in der Schachtel gut eine Million Mal gezählt. Sie packte die CDs wieder aus.
Jeremys Taschenlampe hatte keine Batterie mehr. Mit einem Scheppern landete sie auf dem Boden, wo sie liegenblieb.
Ein weiteres Paar Schuhe und Mutters alten Kimono, der ihr vier Nummern zu weit war. Sie seufzte und faltete ihn neu zusammen.
„Wo sie jetzt ist braucht sie den nicht mehr…“, sie sprach mehr zu sich selbst als zu ihm und flüsterte mehr als dass sie sprach. Kaum verwunderlich, dass er nicht auf sie einging.
„Es ist Sonntag, Carola. Der Zug fährt nicht.“
Sie hatte alles beisammen. Die Tasche war noch nicht voll.
„Brauchst du noch was?“
„Inzwischen müsstest du wissen, was da alles reinkommt.“ Er kehrte ihr den Rücken zu.
Sie zog den Reissverschluss zu. Es war ihr ernst. Dieses Mal war es ihr wirklich ernst.
Jeremy zog eine Augenbraue hoch, als sie die Tasche aus dem Zimmer schleppte. Sie war wieder zu schwer.
Die Uhr in der Küche tickte. Einundzwanzig Uhr dreiundfünfzig.
Das Lady Blue hatte die ganze Nacht geöffnet
Zurück im Zimmer scheuchte sie Jeremy, der im Schlafanzug war, aus dem Bett.
„Es ist Sonntag Carola. Der Zug fährt nicht.“ Und ein Taxi zum Flughafen war viel zu teuer.
Sie verliess das Zimmer und setzte sich ins Wohnzimmer. Vater hatte sein halbleeres Bier neben die Fernbedienung auf den Couchtisch gestellt. Das Holz wies zahllose Ringe auf, die sich teilweise nicht mehr wegwischen liessen. Als sie die Flasche seufzend in die Küche trug, kam ein weiterer Ring zum Vorschein.
Der Fernseher dröhnte vor sich hin. Die Scheibe war warm und die Luft in ihrer unmittelbaren Nähe elektrisch aufgeladen. Es knisterte leise, als sie mit der Hand darüber fuhr. Kraftlos liess sie sich ins Sofa sinken.
Und er kam nach Hause. Er schrie nach seinem Bier und sie brachte es ihm. Neben dem Garderobenständer stand ihre rote Reisetasche.
Lea