Der Tag hatte beinahe zu gut angefangen. Ich hatte hervorragend geschlafen und als sich Hildegard nahezu liebevoll von mir verabschiedet hatte, war in mir seit langer Zeit das erste Mal die Lust aufgekeimt etwas zu tun; das ewige Warten zu beenden, einen Schritt auf sie zuzumachen. Nachdem ich die Kinder in die Schule gebracht hatte, war ich auf direktem Weg in die Stadt gefahren, hatte Blumen und zwei Plätze in der Oper heute Abend besorgen wollen, war aber aufgrund des Preises auf Kino umgestiegen. Regina hatte sich bereiterklärt, sich der Kinder anzunehmen und als ich mich pfeiffend auf dem Weg zu meinem Wagen befand und mich eine edle Füllfeder aus dem Schaufenster eines Schreibwarenladens anlachte, gönnte ich mir gutgelaunt und kauffreudig, wie ich war, die siebzig Franken Schreibvergnügen und sass gegen 12 Uhr pünktlich vor der Schule in seinem Audi.
Auch als nachmittags Regina kam um die Zwillinge abzuholen war ich bester Laune. Ich zählte die Stunden, Minuten, räumte tatsächlich ein wenig auf und sass gegen vier Uhr eine Zigarette rauchend und mit offenen Fenstern am Küchentisch. Vor mir lagen ausgebreitet die Zeitungen. Ich griff nach meiner Tasche und angelte nach der Füllfeder, stellte den Radio lauter, grölte ein wenig mit, öffnete die Packung und stopfe di Gebrauchsanweisung ungelesen in meine Tasche (Eine Schreibfeder zu „bedienen“ dürfte selbst mir gelingen). Ich beschloss meinen Eltern einen Brief zu schreiben. Ich hatte mich lange nicht mehr bei ihnen gemeldet. Dabei waren ich und mein Vater früher wie Kumpels gewesen und meine kleine Schwester, die studierte und noch bei ihnen wohnte wollte schon lange etwas mit mir unternehmen. Ich füllte meine Feder, schob die Zeitungen ein wenig beiseite und setze auf einem nicht ganz weissen Recyclingpapier zu einigen Testen an. Ich musste recht lange üben, bis ich eine schwungvolle Unterschrift draussen hatte. Es war bereits halb sechs. In einer Stunde dreissig Minuten würde Hildegard zu Hause sein. Ich hatte keine Mühe gescheut, die Blumen und die Kinokarten für die Vorstellung um halb neun schön auf der Kommode im Gang drapiert. Sie würde sie als erstes sehen, wenn sie heimkommen würde. Ich war dabei einige Wellenlinien auf mein, schon halbvolles, Blatt zu kritzeln, hatte gerade meine Zigarette ausgedrückt, als die Lust nach einem Bier in mir aufstieg. Ich holte mir eines aus dem Kühlschrank aber das Beste gabs im Löwen. Allein mittwochs hatte meine Lieblingsbar geschlossen… es war Mittwoch. Jeden Mittwochabend sowie donnerstags und montags war Hildegard im Kirchenchor. Sie kam nicht nach Hause nach der Arbeit, ass mit Freunden, es lohne sich nicht, sagte sie. Er wusste, dass sie es bloss Leid war für eine Stunde nach Hause zu kommen und mit zwei streitenden Kindern am Tisch ihm, Paul, schweigend gegenüberzusitzen. Sie hatten sich lang nichts mehr zu sagen gehabt. Zu lange schon lebt jeder sein Leben. Die Gemeinsamkeit der Ehe war im Stress des Alltags verloren gegangen. Jeder Versuch irgendetwas zu tun, das zu einer sinnvollen Kommunikation führte war kläglich gescheitert. Hildegard war abends müde und am Wochenende beschäftigt und die Ferien waren nicht dazu da zu streiten.
Sieben Uhr. Also kein zweisamer Abend. Ich schloss das Fenster. Es wurde kühl. Längst war meine Hochstimmung vom Vormittag verflogen und einem flauen Gefühl im Magen gewichen. Klar, mein Fehler war es gewesen, die Chorprobe vom Abend zu vergessen. Ich hätte nur zwei Tage warten müssen, mit meinem guten Tag und er hätte möglicherweise noch besser geendet. Erneut nahm ich meinen Füller, schrieb die Adresse meiner Eltern aufs Blatt, nur zum Test. Einen Brief zu schreiben war ich nicht in der Lage noch in der Stimmung ihn freundlich zu formulieren. Ich mochte Schwierigkeiten haben, es mir einzugestehen, aber ich hatte eine Wut im Bauch entwickelt. Ich hatte das grässliche Gefühl alles getan und doch versagt zu haben. Ich schob das zugekritzelte Papier zur Seite und holte einen astreinen, schneeweissen Bogen teures Papier aus meinem Arbeitszimmer, faltete ihn sorgfältig und hielt einen Moment inne. Wie ich da sass, abgeschnitten vom Rest der Welt, alleingelassen mit mir und meinen Gedanken schien mir meine Situation so ausweglos wie noch nie. Dann setzte ich meine Feder an und schrieb in einem Zug und wunderschön die Worte Mir ist es hier zu kalt nieder. Ich las sie nochmal durch, bevor ich schrieb: ich gehe nach Südamerika. Ein Ausrufezeichen und mein Namen, schon wäre der Brief fertig. Ich zögerte, schraubte die die Kappe auf die Feder. Ich las meine Worte noch mal durch, testete ihre Wirkung auf mich. Sie waren mir in einer Zehntelsekunde durch den Kopf gegangen, und dass sie all meine Gedanken so unbemäntelt wiederspiegelten, wie sie es nur konnten, war beinahe beängstigend. Ich sah zu wie die Tinte trocknete, beinahe schwarz wurde. Beinahe? Es war nicht der Zeitpunkt an der Aussage der hübschen Verkäuferin zu zweifeln, die mir unter Augenaufschlag versichert hatte, die Tinte würde pechschwarz werden. Ich öffnete die Feder wieder und setzte nur meinen Namen unter das Blatt. Schloss die Feder wieder sorgfältig und legte sie hin. Ich sass einfach nur da, meinen düsteren Gedanken schutzlos ausgeliefert. Ich hatte keine Energie mehr. Ich war zu hundert Prozent ausgelaugt und fühlte, wie meine Ohren taub und mein Blick stumpf wurde.
Als die Tinte längst schwarz war stand ich auf. Meine Beine waren wackelig aber sie hielten mein Gewicht. Ich holte mir ein neues Bier. Es war das letzt gekühlte und mir wurde bewusst, dass ich in den letzten drei, vier, fünf(?) Stunden acht Flaschen geleert hatte. Mein Zigarettenpäckchen war lehr und der Aschenbecher rauchte. Es stank. Angewider schob ich den Aschenbecher von mir und räumte die Zeitungen endgültig weg. Ausgerechnet die Kinoinserate waren geöffnet und riefen neuen Groll hervor. Energisch zerpflückte ich mein Blatt mit dem Versuchen. Für die Kinovorstellung war es jetzt zu spät. Die vergessenen Chorproben würden schon bald fertig sein, es war unerklärlicherweise Bier für Bier, Zigarette um Zigarette acht Uhr vierzig geworden. Um 9 würde sich Hildegard auf den Weg machen um eine halb Stunde später bei mir zu sein. Der Lärm des Radios war mir zu viel geworden. Ich stellte es ganz aus und öffnete das Fenster um den Rauch loszuwerden. Hildegard mag es nicht, wenn ich rauche und trinke. Sie sagt, dann sei ich unausstehlich. Ich schloss das Fenster demonstrativ wieder, liess Aschenbecher, die leeren Flaschen und ein halbausgetrunkenes, lauwarmes Bier zusammen mit meinem Brief zurück. Als ich auf dem Weg in mein Bureau der Kommode mit den Tickets und den Blumen vorbeikam, versetze ich ihr einen Stoss, der die Tickets zu Boden segeln und die Lilien erzittern liess. Hildegard mag Lilien, besonders weisse. Es war neun Uhr. Hildegard würde sich möglicherweise über die Blumen freuen, sie Aufheben und über die Tickets wundern. Sie würde ihrer Nase in die Küche folgen, entsetzt das alle Fenster öffnen und den Aschenbecher in hohem Bogen rauswerfen. Dabei würde sie seine Nachricht lesen und nicht recht glauben können. Sie würde in den Löwen telefoniern und ebenso vergessen haben, dass dieser mittwochs geschlossen hatte, wie er den Chor vergessen hatte. Sie würde sich durchs Haar fahren und an Südamerika denken, seine Hemden möglicherweise zählen gehen nachdem sie ihren Mantel ausgezogen hatte. Sie würde sich die Schläfen reiben, ihre Migräne spürend und dann ins Zimmer der Kinder gehen. Spätestens dann würde sie unglaubliche Angst bekommen, sie wusste nichts von Regina.
Da sitze ich. Es ist nach neun. Ich habe soeben die Gebrauchsanweiseung meines Füllers in meiner Tasche wiederentdeckt und gelsesn. Deutsch. Französisch. Englisch. Ungarisch. Ich spreche kein Ungarisch.
Ich lese den Text erneut in allen Sprachen, ja vergleiche gar Englsich mit Deutsch und werde mir bewusst, was ich tue. Lege die Anleitung weg und überlege, wem ich einen Brief schreiben könnte. Lohnt sich nicht mehr, es ist 21.24.
Südamerika war nicht ernst gemeint gewesen. Es war eine Versuchung gewesen, der ich nicht habe widerstehen können, dies niederzuschreiben. Resignation hatte sich in mir breitgemacht. Ich war alles andere als nüchtern gewesen, auch wenn ich erst danach mit dem grossen Trinken begonnen habe. Nun bin ich wohl leicht beschwipst und habe weder die Kraft noch die Zeit ernsthaft über die Umsetztung meines „Plans“ nachzudenken. Ein Knall. Zurück in der Gegenwart.
„Schlafen die Kinder?“
Keine Begrüssung. Ich schliesse die Tür zu meinem Schreibzimmer ab. Ein Sofa steht in der Ecke, bereit mich jederzeit aufzufangen, wenn es die Ehefrau nicht tut. Von nebenan ertönen einige Laute, Schritte, dann Stille. Und eine alles verhüllende Dunkelheit wird allgegenwärtig.