Mittwoch, 13. Juli 2011

Mal wieder


Und wieder einmal blieb ihr nichts anderes übrig als zu schweigen, während er herumtobte. Zu schweigen, während er sie anschrie. Und zu schweigen, während er sie stiess und mit der flachen Hand ins Gesicht schlug, als er merkte, dass die Bierflaschen im Kühlschrank noch lauwarm waren.  
Sie wartete ab, bis sie das Summen des Fernsehers hörte, und stand auf. Die Turmuhr schlug neunzehn Mal.
Sie räumte die leeren Flaschen zur Seite und begann den Schmutz des Tages aufzuwischen während sie das Radio andrehte. Ganz leise nur. Stau wegen Unfall auf der A1 Zürich Richtung St.Gallen.
Es war einundzwanzig Uhr zweiundreissig, als alle Teller und die Wäsche gewaschen waren, der Boden sauber und sie müde. Und es war einundzwanzig Uhr zweiundreissig, als die Tür mit einer solchen Wucht hinter ihm zuschlug, dass der Raum erbebte.
Jeremy schlief, oder auch nicht. Sie schlich sich zur Tür ihres gemeinsamen Zimmers und horchte. Dann drückte sie die Klinke leise nach unten, die Tür öffnete sich knarrend. Ihr Bruder sass aufrecht im Bett, ein Buch auf dem Schoss, eine Taschenlampe in der Hand, blickte nicht auf, als sie kam. Sie ging auf ihre Seite des Vorhangs, machte Licht. Kein Protest.
„Wir gehen.“ Sie schaute ihn an.
„Ich weiss.“ Er sah nicht auf.
Sie begann zu packen. Hosen für sie, Shirts für ihn, zwei CDs und die kleine grüne Blechschachtel. Sie war alt und ein wenig rostig, bot aber Platz für eine Million in grossen Scheinen. Carola hatte nie grosse Scheine gehabt, geschweige denn eine Million. Stattdessen hatte sie die wenigen Scheine in der Schachtel gut eine Million Mal gezählt. Sie packte die CDs wieder aus.
Jeremys Taschenlampe hatte keine Batterie mehr. Mit einem Scheppern landete sie auf dem Boden, wo sie liegenblieb.
Ein weiteres Paar Schuhe und Mutters alten Kimono, der ihr vier Nummern zu weit war. Sie seufzte und faltete ihn neu zusammen.
„Wo sie jetzt ist braucht sie den nicht mehr…“, sie sprach mehr zu sich selbst als zu ihm und flüsterte mehr als dass sie sprach. Kaum verwunderlich, dass er nicht auf sie einging.
„Es ist Sonntag, Carola. Der Zug fährt nicht.“
Sie hatte alles beisammen. Die Tasche war noch nicht voll.
   „Brauchst du noch was?“
   „Inzwischen müsstest du wissen, was da alles reinkommt.“ Er kehrte ihr den Rücken zu.
Sie zog den Reissverschluss zu. Es war ihr ernst. Dieses Mal war es ihr wirklich ernst.
Jeremy zog eine Augenbraue hoch, als sie die Tasche aus dem Zimmer schleppte. Sie war wieder zu schwer.
Die Uhr in der Küche tickte. Einundzwanzig Uhr dreiundfünfzig.
Das Lady Blue hatte die ganze Nacht geöffnet
Zurück im Zimmer scheuchte sie Jeremy, der im Schlafanzug war, aus dem Bett.
   „Es ist Sonntag Carola. Der Zug fährt nicht.“ Und ein Taxi zum Flughafen war viel zu teuer.
Sie verliess das  Zimmer und setzte sich ins Wohnzimmer. Vater hatte sein halbleeres Bier neben die Fernbedienung auf den Couchtisch gestellt. Das Holz wies zahllose Ringe auf, die sich teilweise nicht mehr wegwischen liessen. Als sie die Flasche seufzend in die Küche trug, kam ein weiterer Ring zum Vorschein.
Der Fernseher dröhnte vor sich hin. Die Scheibe war warm und die Luft in ihrer unmittelbaren Nähe elektrisch aufgeladen. Es knisterte leise, als sie mit der Hand darüber fuhr. Kraftlos liess sie sich ins Sofa sinken.
Und er kam nach Hause. Er schrie nach seinem Bier und sie brachte es ihm. Neben dem Garderobenständer stand ihre rote Reisetasche.
Lea

Sonntag, 26. Juni 2011

Nora

Beklommenheit steigt an meinen Knöcheln empor und legt sich wie eine eisige Hand über mein Herz. Da ist die Wut über Torwald aber vor allem eins: Die riesige Enttäuschung über Torwalds Verrat. Er hat sich selbst – oder zumindest den Torwald, der meinem Wunschdenken entsprungen war – verraten!
Das einzig Gute an meiner Wut ist, dass sie mir die Hemmungen genommen hat, die mich von klein auf begleitet haben. Erst mein Vater, dann Torwald waren immer Respektspersonen für mich gewesen. Autoritäre Persönlichkeiten, denen ich nichts entgegen zusetzten hatte, in meiner kindlichen Naivität gefangen, wie ich es war. Auf einmal fühle ich mich grauenvoll leer. Ich spüre keine Verzweiflung mehr aber ebensowenig Freude an mein zukünftiges, freies Leben. Mir war in wenigen Stunden – oder hat es schon vor Tagen begonnen? – alles geraubt worden, worauf ich stolz gewesen war. Die Tatsache ein Leben gerettet zu haben, oder gar zwei, die Beförderung meines Mannes, der er nicht mehr ist und die scheinheilige Ausgefülltheit, die mein Leben hatte, nachdem ich drei Kinder geboren hatte.
Auf der Treppe spüre ich einen solchen Drang, loszuschreien, dass ich mich, den Nachbarn zu liebe, schnell aus dem Staub mache. Und das, obwohl die Nachbarn wohl die letzten wären, die mich im Moment zu interessieren hätten! Ich habe meine geliebten Kinder zurückgelassen ohne auch nur ein Foto einzupacken, und das alles um einem Mann, der mich nie geliebt hat zu beweisen wie stark ich war und das ich ihn  nicht brauche weil ich nicht so naiv bin wie er immer dachte und unabhängig, selbstständig- Aaaaaaaaaaaaaah!
Das war irgendwie noch nicht so recht befreiend…
Ich stosse einen Schrei aus, der mit Sicherheit Ivar und Emmy weckt – nicht Bob, der ist ja krank – und Torwald, würde der schlafen. Wie denn? Der wird mit seinen Gedanken noch bis früh morgens beschäftigt sein. Ohne Frau, ohne Freunde – Oh Rank wie ich dich schon vermisse! Ich weiss nicht was mich mehr geschockt hat: Die Tatsache, dass er sich zum sterben eingeschlossen hat – oder, dass er seit Jahren in mich verliebt gewesen war. Wie viel stärker wäre eine Ehe zwischen uns geworden, echte Gespräche bis Mitternacht und kein neckisches Umhertanzen und Singen. Ach, hätte ich bloss vor Jahren erkannt was ich jetzt weiss! Aber welche Liebe währe das gewesen! Mit nichts als Aussichten auf seinen Tod? Hätte ich jemals die Chance auf ein neues Leben gehabt, wie ich sie jetzt habe, nicht verwitwet, nur getrennt? Der Schnee knirscht und die eisige Luft lässt mich frösteln, ich bin viel zu kalt angezogen. Ob Torwald die Fenster der Kinderzimmer auch ordentlich verschlossen hat?
Ich fühle mich erwachsen und stark.
Was Christine wohl sagen würde, wenn ich so urplötzlich vor ihrem – Krogstads – Haus auftauchen würde? Ob sie mich immer noch für kindlich und unreif hielt? Ob ihr die melodramatische Art, Mann und Kinder zwecks Selbstfindung zu verlassen, gefiele? Da riss mich schon das Klingeln der Tür  aus den Gedanken.

Mittwoch, 20. April 2011

Annäherungsversuche und Vertrauensfassung

Die 1947 erschienene Kurzgeschichte „Nachts schlafen die Ratten doch“ von Wolfgang Borchert handelt von einem Neunjährigen, der vor einem zerstörten Haus sitzt und erst im Verlaufe der Ereignisse einem älteren Herrn, der ihm helfen möchte, zu vertrauen beginnt.

Jürgen sitzt zwischen den Ruinen einer Stadt, vor seinem zerbombten Haus. Er meint seinen kleinen Bruder, der unter dem Geröll begraben liegt, vor gefrässigen Ratten beschützen zu müssen.  Als ein älterer Herr auf ihn zutritt und ihn anspricht, tut er zuerst so als würde er schlafen und ist auch danach zurückhaltend und abweisend. Erst nachdem der Mann Kaninchen zur Sprache bringt und der Junge ihm im Gegenzug seine Geschichte erzählt, taut er ein Wenig auf. Mit Hilfe der Notlüge, Ratten würden nachts schlafen, gelingt es dem Mann schliesslich, den Jungen zu überreden, nach Einbruch der Dunkelheit mit ihm mit zu kommen.

Nachdem ein Neunjährige schon seit Tagen alleine vor der Ruine seines Hauses sitzt, bringt ein alter Mann ihm ein Stück Hoffnung zurück. Der Kern der Geschichte ist wohl genau die Suche nach Hoffnung und einem Sinn, die die Nachkriegszeit verkörpert. Der Krieg ist vorbei und man wagt zu hoffen, was anfangs schwierig ist wird zum Alltag und nach und nach kommt die  Normalität zurück.
Anfangs wird man direkt ins Geschehen eingeleitet und der Schluss ist offen.Die in auktorialer Erzählform geschriebene Geschichte beschreibt den Prozess von Annäherungsversuchen seitens des Mannes und Vertrauensfassung seitens des Jungen.

Die ersten Gedanken des Jungen, Jetzt haben sie mich!, als er bemerkt, dass jemand vor ihm steht, zeigen ganz genau auf, wie es ihm geht. Er misstraut allem und jedem und kommt gar nicht auf die Idee, dass, wer auch immer vor ihm steht, etwas Gutes im Sinn hat.
Als er vorsichtige Schritte auf den Mann zumacht, geht dieser sofort auf jede kleinste Bemerkung ein um damit dessen Vertrauen zu erlangen und ihm näher zu kommen. Systematisch versucht er Jürgen mit belanglosen Dingen wie dem Rechnen oder dem Erraten vom Korbinhalt auf ein noch unbestimmtes "Ziel" hinzuführen. Dieses Ziel ist sehr wage und offen für Interpretationen auch wenn sich Gewisses mit der Zeit herauskristalisiert. Der Mann versucht als zuerst das Vertrauen des Jungen zu erlangen um ihn danach mit Hilfe von Kaninchen und der "Rattenlüge" zu überreden, ihn nach Hause zu begleiten.
Dass er Erfolg hat und der Junge auf seine Annäherungsversuche eingeht und sich öffnet, sieht man sehr schön im letzten Abschnitt., wo er dem Mann im Weggehen hinterherruft. Zusammen mit der Farbe grün des Futters scheint Hoffnung durch. Der Junge wagt es wieder nach vorne zu schauen anstatt abzuwarten und zu trauern.
Auch wenn sich optisch in den vielleicht 10 Minuten Gespräch wenig verändert hat und der Junge sowohl vor Beginn wie auch nach der Geschichte vor einem verwüsteten Haus sitzt, hat sich viel getan. Hoffnung hat die Kälte von vorhin verdrängt. Jürgen weiss jetzt dass er nicht alleine ist und das sein Dasitzen befristet ist. Er hat, wenn auch ein kleines, ein Ziel vor Augen.
Die 1947 erschienene Kurzgeschichte „Nachts schlafen die Ratten doch“ von Wolfgang Borchert handelt von einem Neunjährigen der von einem zerstörten Haus hockt und erst im Verlaufe der Ereignisse einem älteren Herrn, der ihm helfen möchte, zu vertrauen beginnt.

Ein Junge sitzt zwischen den Ruinen einer Stadt, vor seinem zerbombten Haus. Er meint seinen kleinen Bruder, der unter dem Geröll begraben liegt, vor gefrässigen Ratten beschützen zu müssen.  Als ein älterer Herr auf ihn zutritt und ihn anspricht, tut er zuerst so als würde er schlafen und auch danach zurückhaltend und abweisend. Erst nachdem der Mann Kaninchen zur Sprache bringt und der Junge ihm im Gegenzug seine Geschichte erzählt, taut er ein Wenig
-> was m ich besonderes beeindruckt interessiert
-> auktoriale erzählform
spielt in nachkriegszeit
man wird anfangs direkt ins geschehen eingeleitet und der schluss ist offen

wo spielts?
hauptpersonen?
angst des jungen - soldaten? "....jetzt haben sie mich dachte er leise..."

Mittwoch, 13. April 2011

Kurzgeschichte Interpretation


Die 1947 erschienene Kurzgeschichte „Nachts schlafen die Ratten doch“ von Wolfgang Borchert handelt von einem Neunjährigen der von einem zerstörten Haus hockt und erst im Verlaufe der Ereignisse einem älteren Herrn, der ihm helfen möchte, zu vertrauen beginnt.

Ein Junge sitzt zwischen den Ruinen einer Stadt, vor seinem zerbombten Haus. Er meint seinen kleinen Bruder, der unter dem Geröll begraben liegt, vor gefrässigen Ratten beschützen zu müssen.  Als ein älterer Herr auf ihn zutritt und ihn anspricht, tut er zuerst so als würde er schlafen und auch danach zurückhaltend und abweisend. Erst nachdem der Mann Kaninchen zur Sprache bringt und der Junge ihm im Gegenzug seine Geschichte erzählt, taut er ein Wenig


-> was m ich besonderes beeindruckt interessiert
-> auktoriale erzählform
spielt in nachkriegszeit
man wird anfangs direkt ins geschehen eingeleitet und der schluss ist offen


wo spielts?
hauptpersonen?
angst des jungen - soldaten? "....jetzt haben sie mich dachte er leise..."

Dienstag, 5. April 2011

Nachst schlafen die Ratten doch

Was man mit Ratten assoziiert: Nackte Schwänze und Nachtaktivität. Wiese behauptet der alte Mann aus unserer Geschichte also, Ratten würden nachts schlafen?
Ein alter Mann trifft auf einen verwahrlosten kleinen Kerl, der ihm (angenommen er führt nichts Böses im Schilde) leid tut. Der Mann versucht also jede Möglichkeit zu nutzen, dem Kleinen ein wenig Hoffnung zu geben, ihm näher zu kommen. Es kommt aus, dass das Kind, das nichts mehr hat ausser sich selbst, einem Stück Brot und Tabak, Tag und Nacht die Ratten von seinem verschütteten Bruder fernhalten will.  Um dem Jungen zumindest nachts seine Kindheit zurückgeben zu können, behauptet der Mann, Ratten würden nachts schlafen. Er schafft es, das Vertrauen des Jungen zu gewinnen, und es ist anzunehmen, dass er ihn nach Einbruch der Nacht zu sich nach Hause holen, oder sich anderweitig um ihn kümmern wird.
Wieso sich ein alter Mann um ein wildfremdes Kind sorgt und ihm helfen will, begründe ich damit, dass er selbst den Krieg (bez. die beiden Kriege) miterlebt hat und selbst viel Leid hinter sich hat. Ein Zeichen dafür sind auch seine krummen Beine.
Ich stelle mir vor, dass der Bub in den nächsten Tagen mehr und mehr von seiner "Pflicht" befreit und abgelenkt wird und möglicherweise bald wieder einfach nur Kind sein darf.
Dieses "Kindsein" ist womöglich das, was der Mann dem Jungen wiedergeben will.

Montag, 21. März 2011

Neuauslegung in Ich-Erzählform des San Salvador von Peter Bichsel

Der Tag hatte beinahe zu gut angefangen. Ich hatte hervorragend geschlafen und als sich Hildegard nahezu liebevoll von mir verabschiedet hatte, war in mir seit langer Zeit das erste Mal die Lust aufgekeimt etwas zu tun; das ewige Warten zu beenden, einen Schritt auf sie zuzumachen. Nachdem ich die Kinder in die Schule gebracht hatte, war ich auf direktem Weg in die Stadt gefahren, hatte Blumen und zwei Plätze in der Oper heute Abend besorgen wollen, war aber aufgrund des Preises auf Kino umgestiegen. Regina hatte sich bereiterklärt, sich der Kinder anzunehmen und als ich mich pfeiffend auf dem Weg zu meinem Wagen befand und mich eine edle Füllfeder aus dem Schaufenster eines Schreibwarenladens anlachte, gönnte ich mir gutgelaunt und kauffreudig, wie ich war, die siebzig Franken Schreibvergnügen und sass gegen 12 Uhr pünktlich vor der Schule in seinem Audi.
Auch als nachmittags Regina kam um die Zwillinge abzuholen war ich bester Laune. Ich zählte die Stunden, Minuten, räumte tatsächlich ein wenig auf und sass gegen vier Uhr eine Zigarette rauchend und mit offenen Fenstern am Küchentisch. Vor mir lagen ausgebreitet die Zeitungen. Ich griff nach meiner Tasche und angelte nach der Füllfeder, stellte den Radio lauter, grölte ein wenig mit, öffnete die Packung und stopfe di Gebrauchsanweisung ungelesen in meine Tasche (Eine Schreibfeder zu „bedienen“ dürfte selbst mir gelingen). Ich beschloss meinen Eltern einen Brief zu schreiben. Ich hatte mich lange nicht mehr bei ihnen gemeldet. Dabei waren ich und mein Vater früher wie Kumpels gewesen und meine kleine Schwester, die studierte und noch bei ihnen wohnte wollte schon lange etwas mit mir unternehmen. Ich füllte meine Feder, schob die Zeitungen ein wenig beiseite und setze auf einem nicht ganz weissen Recyclingpapier zu einigen Testen an. Ich musste recht lange üben, bis ich eine schwungvolle Unterschrift draussen hatte. Es war bereits halb sechs. In einer Stunde dreissig Minuten würde Hildegard zu Hause sein. Ich hatte keine Mühe gescheut, die Blumen und die Kinokarten für die Vorstellung um halb neun schön auf der Kommode im Gang drapiert. Sie würde sie als erstes sehen, wenn sie heimkommen würde. Ich war dabei einige Wellenlinien auf mein, schon halbvolles, Blatt zu kritzeln, hatte gerade meine Zigarette ausgedrückt, als die Lust nach einem Bier in mir aufstieg. Ich holte mir eines aus dem Kühlschrank aber das Beste gabs im Löwen. Allein mittwochs hatte meine Lieblingsbar geschlossen… es war Mittwoch. Jeden Mittwochabend sowie donnerstags und montags war Hildegard im Kirchenchor. Sie kam nicht nach Hause nach der Arbeit, ass mit Freunden, es lohne sich nicht, sagte sie. Er wusste, dass sie es bloss Leid war für eine Stunde nach Hause zu kommen und mit zwei streitenden Kindern am Tisch ihm, Paul, schweigend gegenüberzusitzen. Sie hatten sich lang nichts mehr zu sagen gehabt. Zu lange schon lebt jeder sein Leben. Die Gemeinsamkeit der Ehe war im Stress des Alltags verloren gegangen. Jeder Versuch irgendetwas zu tun, das zu einer sinnvollen Kommunikation führte war kläglich gescheitert. Hildegard war abends müde und am Wochenende beschäftigt und die Ferien waren nicht dazu da zu streiten.
Sieben Uhr. Also kein zweisamer Abend. Ich schloss das Fenster. Es wurde kühl. Längst war meine Hochstimmung vom Vormittag verflogen und einem flauen Gefühl im Magen gewichen. Klar, mein Fehler war es gewesen, die Chorprobe vom Abend zu vergessen. Ich hätte nur zwei Tage warten müssen, mit meinem guten Tag und er hätte möglicherweise noch besser geendet. Erneut nahm ich meinen Füller, schrieb die Adresse meiner Eltern aufs Blatt, nur zum Test. Einen Brief zu schreiben war ich nicht in der Lage noch in der Stimmung ihn freundlich zu formulieren. Ich mochte Schwierigkeiten haben, es mir einzugestehen, aber ich hatte eine Wut im Bauch entwickelt. Ich hatte das grässliche Gefühl alles getan und doch versagt zu haben. Ich schob das zugekritzelte Papier zur Seite und holte einen astreinen, schneeweissen Bogen teures Papier aus meinem Arbeitszimmer, faltete ihn sorgfältig und hielt einen Moment inne. Wie ich da sass, abgeschnitten vom Rest der Welt, alleingelassen mit mir und meinen Gedanken schien mir meine Situation so ausweglos wie noch nie.  Dann setzte ich meine Feder an und schrieb in einem Zug und wunderschön die Worte Mir ist es hier zu kalt nieder. Ich las sie nochmal durch, bevor ich  schrieb: ich gehe nach Südamerika. Ein Ausrufezeichen und mein Namen, schon wäre der Brief fertig. Ich zögerte, schraubte die die Kappe auf die Feder. Ich las meine Worte noch mal durch, testete ihre Wirkung auf mich. Sie waren mir in einer Zehntelsekunde durch den Kopf gegangen, und dass sie all meine Gedanken so unbemäntelt wiederspiegelten, wie sie es nur konnten, war beinahe beängstigend. Ich sah zu wie die Tinte trocknete, beinahe schwarz wurde. Beinahe? Es war nicht der Zeitpunkt an der Aussage der hübschen Verkäuferin zu zweifeln, die mir unter Augenaufschlag versichert hatte, die Tinte würde pechschwarz werden. Ich öffnete die Feder wieder und setzte nur meinen Namen unter das Blatt. Schloss die Feder wieder sorgfältig und legte sie hin. Ich sass einfach nur da, meinen düsteren Gedanken schutzlos ausgeliefert. Ich hatte keine Energie mehr. Ich war zu hundert Prozent ausgelaugt und fühlte, wie meine Ohren taub und mein Blick stumpf wurde.
Als die Tinte längst schwarz war stand ich auf. Meine Beine waren wackelig aber sie hielten mein Gewicht. Ich holte mir ein neues Bier. Es war das letzt gekühlte und mir wurde bewusst, dass ich in den letzten drei, vier, fünf(?) Stunden acht Flaschen geleert hatte. Mein Zigarettenpäckchen war lehr und der Aschenbecher rauchte. Es stank. Angewider schob ich den Aschenbecher von mir und räumte die Zeitungen endgültig weg. Ausgerechnet die Kinoinserate waren geöffnet und riefen neuen Groll hervor. Energisch zerpflückte ich mein Blatt mit dem Versuchen. Für die Kinovorstellung war es jetzt zu spät. Die vergessenen Chorproben würden schon bald fertig sein, es war unerklärlicherweise Bier für Bier, Zigarette um Zigarette acht Uhr vierzig geworden. Um 9 würde sich Hildegard auf den Weg machen um eine halb Stunde später bei mir zu sein. Der Lärm des Radios war mir zu viel geworden. Ich stellte es ganz aus und öffnete das Fenster um den Rauch loszuwerden. Hildegard mag es nicht, wenn ich rauche und trinke. Sie sagt, dann sei ich unausstehlich. Ich schloss das Fenster demonstrativ wieder, liess Aschenbecher, die leeren Flaschen und ein halbausgetrunkenes, lauwarmes Bier zusammen mit meinem Brief zurück. Als ich auf dem Weg in mein Bureau der Kommode mit den Tickets und den Blumen vorbeikam, versetze ich ihr einen Stoss, der die Tickets zu Boden segeln und die Lilien erzittern liess. Hildegard mag Lilien, besonders weisse. Es war neun Uhr. Hildegard würde sich möglicherweise über die Blumen freuen, sie Aufheben und über die Tickets wundern. Sie würde ihrer Nase in die Küche folgen, entsetzt das alle Fenster öffnen und den Aschenbecher in hohem Bogen rauswerfen. Dabei würde sie seine Nachricht lesen und nicht recht glauben können. Sie würde in den Löwen telefoniern und ebenso vergessen haben, dass dieser mittwochs geschlossen hatte, wie er den Chor vergessen hatte. Sie würde sich durchs Haar fahren und an Südamerika denken, seine Hemden möglicherweise zählen gehen nachdem sie ihren Mantel ausgezogen hatte. Sie würde sich die Schläfen reiben, ihre Migräne spürend und dann ins Zimmer der Kinder gehen. Spätestens dann würde sie unglaubliche Angst bekommen, sie wusste nichts von Regina.

Da sitze ich. Es ist nach neun. Ich habe soeben die Gebrauchsanweiseung meines Füllers in meiner Tasche wiederentdeckt und gelsesn. Deutsch. Französisch. Englisch. Ungarisch. Ich spreche kein Ungarisch.
Ich lese den Text erneut in allen Sprachen, ja vergleiche gar Englsich mit Deutsch und werde mir bewusst, was ich tue. Lege die Anleitung weg und überlege, wem ich einen Brief schreiben könnte. Lohnt sich nicht mehr, es ist 21.24.
Südamerika war nicht ernst gemeint gewesen. Es war eine Versuchung gewesen, der ich nicht habe widerstehen können, dies niederzuschreiben. Resignation hatte sich in mir breitgemacht. Ich war alles andere als nüchtern gewesen, auch wenn ich erst danach mit dem grossen Trinken begonnen habe. Nun bin ich wohl leicht beschwipst und habe weder die Kraft noch die Zeit ernsthaft über die Umsetztung meines „Plans“ nachzudenken. Ein Knall. Zurück in der Gegenwart.
„Schlafen die Kinder?“
Keine Begrüssung. Ich schliesse die Tür zu meinem Schreibzimmer ab. Ein Sofa steht in der Ecke, bereit mich jederzeit aufzufangen, wenn es die Ehefrau nicht tut. Von nebenan ertönen einige Laute, Schritte, dann Stille. Und eine alles verhüllende Dunkelheit wird allgegenwärtig.